Boccia. Einsam führt Bastian Keller (TV Markgröningen) die Tabelle an. Der mehrfache Deutsche Meister ist jetzt auch unangefochtener Baden-Württembergischer Meister im Paralympischen Boccia der Klasse BC 4. Doch bei den Platzierungen dahinter zählt jeder Ball. Sein Vereinskollege Christian Hartmann ist Zweiter, dicht darauf folgen die badischen Teilnehmer von der RSG Heidelberg-Schlierbach.
Eine fröhliche Stimmung herrscht in der Ensinger Forchenwaldhalle. Kinder und Erwachsene verfolgen aus dem Zuschauerbereich, welche der Athleten sich wie teuer verkaufen. Bei den erst zum zweiten Mal ausgetragenen Landesmeisterschaften sind insgesamt fünf Teilnehmer am Start. „Einer mehr als bei der DM in Berlin vor kurzem“, freut sich Para-Boccia-Fachwart Thomas Keller. „Und es ist auch mehr Publikum da.“ Bis zu 50 Zuschauer gleichzeitig in der Halle, das sind die im Rollstuhl sitzenden Bocciaspieler nicht gewöhnt. Doch sie genießen es, wenn nach jedem erfolgreich abgeschlossenen Satz Beifall geklatscht, bei besonders spektakulären Spielzügen sogar spontaner Szenenapplaus gegeben wird.
Zuschauerfreundliche Spielregeln fördern das Verständnis für den Wettbewerb.
Die Spielregeln sind leicht verständlich, so dass auch Zuschauer schnell folgen können, die mit Para-Boccia bislang nichts zu tun hatten – dank der Werbung von Ausrichter TSV Ensingen sind das einige. Norbert Julmi, Leiter der TSV-Abteilung Freizeitsport, freut sich riesig über den Andrang. „Es ist nur ein bisschen zu kühl für die Rollstuhlfahrer“, sagt er. „Das hatten wir bei der Planung überhaupt nicht in Betracht gezogen. Jetzt haben wir spontan alle verfügbaren Heizkissen und Decken geholt.“ Eine Woche früher hätte das ungewöhnlich warme Wetter diesen besonderen Aspekt des Rollstuhlsports gar nicht weiter in Erscheinung treten lassen.
Wenn es knifflig wird, muss das extra lange Maßband her.
Ein paar Worte zur Erklärung hat Julmi auf den Preislisten für Speisen und Getränke abgedruckt. Wer mehr wissen will, wird direkt zum Fachwart des Württembergischen Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbands geschickt. Thomas Keller muss an diesem Tag viele Fragen beantworten, immer wieder aber auch den beiden Schiedsrichtern aushelfen. Denn wenn es auf den zwei mit Klebeband markierten Spielfeldern allzu eng hergeht – das ist an diesem Tag häufig der Fall – reicht das Augenmaß nicht aus, sondern es muss das große Maßband her. Der Fachwart auf der einen und einer der Schiedsrichter auf der anderen Seite nehmen ganz genau Maß, wie viele Bälle von Blau oder Rot näher am Jackball liegen als der erste Ball der Gegenseite.
Dass es da mitten in einem Satz ganz erhebliche Verschiebungen geben kann, stellt Christian Hartmann im Duell gegen Heiko Striehl unter Beweis. Gerade erst hat Thomas Keller ein paar Zuschauern erklärt, dass der Jackball – das Ziel – vom Schiedsrichter genau in die Mitte des Spielfelds gelegt würde, falls einer der Spieler es aus taktischen Gründen aus dem Spielfeld schießen sollte. Prompt nutzt der Markgröninger diese Taktik. Denn sein Kontrahent hat keine Bälle mehr und er selbst erhofft sich einen Vorteil, wenn der Jackball einen neuen Standort bekommt, den er mit seinen restlichen Bällen umgeben kann. Dieser Satz geht tatsächlich an Christian Hartmann, die aus vier Sätzen bestehende Partie gewinnt er um Haaresbreite mit 5:4. Dass es überhaupt sinnvoll erscheinen kann, den Jackball mit einem gezielten Wurf hinauszuschießen, liegt darin begründet, dass jeder Teilnehmer mit seinem Rollstuhl in einem kleinen, festgelegten Viereck bleiben muss. „Wer Anwurf hat, versucht den Jackball dort zu platzieren, wohin er selbst einen möglichst kurzen Weg und der Gegenspieler einen entsprechend längeren Weg hat“, verdeutlicht der Fachwart. „Wenn der Jackball also später in die Mitte gelegt wird, verschieben sich die Kräfteverhältnisse.“
Niemand muss so lange werfen, bis er keine Bälle mehr hat.
Wessen Ball beim Satzende am nächsten zum Jack platziert ist, der hat gewonnen. Ins Ergebnis fließen alle Bälle des Siegers ein, die näher liegen als der erste des Gegenspielers. „Der Satz kann aber auch zu Ende sein, wenn gar nicht alle Bälle gespielt sind“, sagt Thomas Keller. „Wenn jemand führt, die Bälle aber sehr eng beieinander liegen, verzichtet er vielleicht auf seine letzten Würfe.“ Bei der Erwägung, durch eine Unachtsamkeit oder Pech einen Ball der Gegenseite zu nah ans Ziel zu rollen, entscheidet sich mancher lieber für weniger Punkte als für unter Umständen gar keine.
Wer den Athleten ins Gesicht schaut, sieht volle Konzentration aufs Geschehen. Der Fokus gilt immer nur dem nächsten Wurf. Wer an der Reihe ist, darf mit seinem Rollstuhl auch aufs Spielfeld fahren, ganz genau hinschauen, muss dann aber vor dem Wurf wieder in seine kleine Box zurück.
„Boccia spielen kann auch, wer zum Beispiel die Arme überhaupt nicht mehr bewegen kann“, sagt Thomas Keller. „Dann hält ein Helfer eine Rampe genau nach den Angaben des Spielers und legt den Ball auf eine ganz bestimmte Höhe. Wichtig ist nur, dass das Auslösen durch den Spieler selbst erfolgt. Das kann aber statt mit den Händen auch mit einer Kopfbewegung sein.“