Sport

Zuschauen oder Wegschauen?

Nie zuvor war eine Fußball-Weltmeisterschaft so umstritten. Soll man die WM in Katar schauen oder boykottieren? Das ist derzeit eine der meist diskutierten Fragen – zwei unserer Autoren haben sich entschieden.

  • Ist es vertretbar oder verwerflich Hansi Flick und seinem Team bei dieser WM vor dem Bildschirm die Daumen zu drücken?Foto: Imago/

    Ist es vertretbar oder verwerflich Hansi Flick und seinem Team bei dieser WM vor dem Bildschirm die Daumen zu drücken?Foto: Imago/

Am Sonntag, 20.11., geht sie los, die gekaufte Winter-WM im Wüstenstaat Katar. Dann heißt es für Fußballfans: Farbe bekennen. Einschalten oder nicht, alle Spiele verfolgen, gar keines einschalten oder alle ignorieren, außer die deutschen? Unsere Autoren, Norbert Wallet und Tomo Pavlovic haben dazu eine klare Meinung.

Kontra WM-Boykott: den brilliantesten Athleten Respekt zollen

Norbert Wallet meint: Am Sonntag beginnt in Katar eine Fußball-Weltmeisterschaft, die ganz bestimmt besser an einem anderen Ort stattgefunden hätte. Der Wüstenstaat ist sicher kein Fußball-Land. Fußball hat dort keine Tradition, keine gewachsene Fanszene. Mal abgesehen davon, dass das dortige Klima für die Ausübung von Hochleistungssport unter freiem Himmel denkbar ungeeignet ist. Und natürlich sind die von der katarischen Führung offen zur Schau gestellte Homosexuellenfeindlichkeit, ihre Ablehnung eines Lebensmodells, das auf Vielfalt und Gleichberechtigung setzt, unvereinbar mit dem Leitbild von Diversität, Buntheit und Toleranz, für das der Sport stehen sollte und das die FIFA doch gern wohlfeil postuliert. Noch skandalöser als die Wahl des Gastgeberlandes sind womöglich die Umstände, die zu dieser Wahl geführt haben. Die gilt es, gründlich aufzuarbeiten.

Das alles hat zu einer deutschen Debatte geführt, ob diese WM nicht besser von den heimischen Sportfreunden boykottiert werden sollte: also keine Übertragungen in Kneipen, kein Public Viewing, am besten totschweigen und ganz ignorieren. Zweifellos kann einem der Spaß an der WM vergehen. Auch wenn es seltsam ist, dass diese Forderungen vor vier Jahren in Russland oder anlässlich der Olympischen Spiele in Peking nur in ungleich geringerem Maße laut wurden. Wer so empört über den Austragungsort ist, dass ihm die Freude abhanden kommt, wenn er die Übertragungen aus Katar sieht, kann selbstverständlich abschalten. Kein Problem. Das ist Privatsache. Aber die Unterstützer des Boykotts machen aus dieser Privatsache eine öffentliche, eine politische, eine moralische Frage. Sie halten es für ethisch nicht vertretbar, die WM zu schauen. Auf den Punkt gebracht: Ist ein schlechter Mensch, wer angesichts der Haltung der katarischen Staatsführung zu Diversität und den Arbeitsbedingungen auf den Baustellen dennoch die WM verfolgen will, gar Spaß daran hat?

Das ist völliger Unsinn. Eine Fußball-Weltmeisterschaft ist eine einzigartige Messe des Weltfußballs, eine globale Leistungsschau und ein Vergleich konkurrierender Auffassungen des Spiels, eine grandiose Bühne auch für kleine Nationen aller Kontinente, denen sonst das Rampenlicht und die weltweite Aufmerksamkeit fehlen. Sie zeigt den Stand der Entwicklung der Sportart, weil die Besten zusammenkommen. Fußball ist Wettbewerb, und die WM ist sein Gipfel. Jeder Fußballer träumt von diesem Kräftemessen, jeder wirkliche Fußballfan erinnert sich an die großen Kämpfe früherer Turniere. Die aktuelle WM ist ja nur eine Fortschreibung dieser kontinuierlichen Erzählung. Das Verfolgen einer WM ist auch eine Art, dieser Tradition und ihren brillantesten Athleten Respekt zu zollen.

Das alles kann man wertschätzen. Wer die WM als Fan des Spiels verfolgt, feiert den Fußball, seine Internationalität, seine prachtvolle Vielfalt, seine Geschichten, seine Helden, seine Dramen. Das kann man trennen: Wer die WM genießt, heißt damit keineswegs die jammervolle Weltsicht der katarischen Politik gut, im Gegenteil, er sollte begreifen, dass der Fußball im Idealfall ein genaues Gegenbild dieses Entwurfs ist. Man kann die WM schauen und Intoleranz verurteilen. Man kann die WM schauen und die Korruption der FIFA anprangern. Man kann die WM schauen und Gruppen unterstützen, die sich für bessere Arbeitsverhältnisse in Katar einsetzen. Das Schauen der WM ist kein Ausdruck der Unterstützung für ihre Organisatoren. Und niemand wird dadurch, dass bei ihm die Mattscheibe dunkel bleibt, zu einem besseren Menschen.

Pro WM-Boykott: eine WM der Schande

Tomo Pavlovic meint: Hoffentlich verpasst Deutschland das Finale. Sollte es dennoch dazu kommen, müssen Fans der deutschen Nationalmannschaft, die die WM boykottieren wollen, den 18. Dezember anderswo verbringen. An einem Ort, wo es keinen Fernseher und kein Netz gibt. Am besten mietet man sich einer Waldhütte ein, um nicht mitzubekommen, wie Mario Götze am Ende noch das Siegtor schießt. Eine schreckliche Vorstellung. Das wird eine harte Fußball-Entziehungskur werden, keine Frage, und für viele wird es der erste WM-Fernseh-Boykott überhaupt sein. Immerhin ist man nicht allein. Gerade jüngere Menschen wollen Umfragen zufolge den Fernseher mehrheitlich nicht einschalten. Normalerweise locken auch viele Kneipen mit Fußballübertragungen feierwütige Fans an den Tresen. Doch diese WM in Katar lehnen etliche Bars ab – trotz der erwartbaren Umsatzeinbußen.

Das kann man einerseits nur unterstützen. Andererseits bringen einem all die Negativ-Schlagzeilen rund um die WM-Vergabe nach Katar schlagartig zu Bewusstsein, dass Katar kein Einzelfall in der Geschichte der Fußballhistorie ist. Leider. Schon 1978 hätte es gute Gründe gegeben, die damalige Endrunde in Argentinien zu boykottieren. Während die einen jubelten, wurden andere unweit der Fußballstadien gefoltert und verschwanden spurlos. 30 000 Menschen fielen dem Regime zum Opfer. In Argentinien herrschte seinerzeit eine Militärdiktatur. Doch die Fußballwelt war blind vor Begeisterung und adelte die Verbrecher.

Das Turnier in Katar ist schon jetzt eine WM der Schande. Wie damals in Argentinien wird der Fußball mit Hilfe der Fifa für ein widerliches Political Washing instrumentalisiert. Millionen Gastarbeiter haben Katars Stadien und Infrastruktur gebaut, Tausende junger Männer sollen gestorben sein, von den inhumanen Arbeitsbedingungen in dem reichen Land ganz zu schweigen. Die Zahlen sind keine Fake News, sondern das Ergebnis seriöser Recherchen von Journalisten und Amnesty International.

Der Weltverband Fifa und Katar nehmen mit dem WM-Turnier eine Milliardensumme ein, davon kann man ausgehen. Dass diese Spiele kein Verlustgeschäft werden, liegt womöglich auch an den billigen Arbeitssklaven aus Asien. Und an den wahrlich üppig bemessenen Zahlungen an die Hinterbliebenen der vielen jungen Männer, die angeblich eines natürlichen Todes verstorben sind. Kaum mehr als 400 Euro bekam eine Witwe aus Nepal zunächst als Entschädigung, erst nach der massiven öffentlichen Kritik und der folgenden Intervention des WM-Organisationskomitees wurde der Betrag aufgestockt.

Wie zynisch ist das denn? Jeder, der in seiner eigenen Biografie eine Migrationsgeschichte hat, wird die Leiden einer nepalesischen Witwe nachvollziehen können. Da wäre etwa der Urgroßvater des Autors dieser Zeilen, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg sein kroatisches Dorf in Richtung Amerika verließ, um seiner schwangeren Frau und den vierzehn Kindern ein besseres Leben bieten zu können. Über Triest und Rotterdam landete er, der Bauer ohne Berufsausbildung und Sprachkenntnisse schließlich in Chicago, wo er in einer Stahlgießerei einen harten Job bekam.

Sechs Monate später war der Mann tot, angeblich gestorben an einer Lungenentzündung, eine Krankenversicherung hatte er nicht, seine Grabstelle ist unbekannt. Zehn Dollar bekam seine Witwe per Post als Entschädigung zugeschickt, da war schon ihr 15. Kind auf der Welt. Ein Trauma, das von Generation zu Generation weitergegeben wird, die Armut wird zum familiären Schicksal und Fluch.

Eine WM in Katar geht also gar nicht, gleichgültig, was der persönliche Boykott auch bringen mag. Statt toller Stadien erkennen viele enttäuschte und fassungslose Fans nur noch: funkelnde Friedhöfe. Deswegen bleibt die Mattscheibe schwarz.

Datenschutz-Einstellungen