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Selbsthilfegruppe in Ludwigsburg: „Habe mir am Kühlschrank Liebe geholt“

Immer mehr Menschen leiden unter Essstörungen. In Ludwigsburg gibt es eine Selbsthilfegruppe „Overeaters Anonymous“, in der sich Betroffene aus einem großen Einzugsgebiet zwischen Stuttgart und Heilbronn austauschen und unterstützen.

  • Ein problematisches Essverhalten kann viele Ursachen haben. In der Ludwigsburger Selbsthilfegruppe tauschen sich die Teilnehmenden aus und entdecken dabei vielleicht auch Parallelen zu ihrer eigenen Leidensgeschichte.  Foto: dpa

    Ein problematisches Essverhalten kann viele Ursachen haben. In der Ludwigsburger Selbsthilfegruppe tauschen sich die Teilnehmenden aus und entdecken dabei vielleicht auch Parallelen zu ihrer eigenen Leidensgeschichte. Foto: dpa

Ludwigsburg. In Modeheften und auf Social-Media-Kanälen im Internet strotzt es nur so vor schlanken, vermeintlich perfekt geformten Körpern und Tipps, wie man diesen erreicht. Und immer mehr Menschen scheinen solchen falschen Idealen nachzujagen, wie erst kürzlich in dieser Zeitung zu lesen war. Demnach stieg vor allem bei jungen Frauen zwischen zwölf und 17 Jahren seit 2020 die Zahl der Essstörungen um 30 Prozent. Mit Diäten fängt es meistens an, doch dank des Jojo-Effektes haben viele nach ersten Erfolgen mehr Gewicht auf den Hüften als zuvor. Manche greifen daher zu radikalen Mitteln, reduzieren die Kalorienzufuhr bis gegen Null oder erbrechen sich nach regelrechten Essattacken. Es ist oft der Beginn eines langen Leidensweges.

„Ich kam mir vor wie eine Drogenabhängige“, sagt Andrea, 56 Jahre alt, aus einer Gemeinde im Landkreis Ludwigsburg. Ihren wirklichen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. In ihrer Jugend sei sie magersüchtig gewesen, später wandelte es sich zur sogenannten Ess-Brech-Sucht, der Bulimie. Sonntags habe sie sich vollgestopft mit dem festen Vorsatz, sich ab Montag zu zügeln. Vergeblich. Mit Mitte 30 – verheiratet und mit zwei kleinen Kindern – sei die Verwaltungsangestellte am Tiefpunkt angelangt gewesen. „Mein 9/11 war ein All-you-can-eat-Hotel im Bulgarien-Urlaub.“ Ihr Körper sei vom vielen Erbrechen völlig ausgezehrt und kraftlos geworden. In der damals neuen Ludwigsburger Selbsthilfegruppe „Overeaters Anonymous“, die sich jeden Mittwoch trifft, fand sie Halt und Hilfe.

Zur Gruppe gehört auch die 62-jährige Annabelle aus dem Rems-Murr-Kreis, die ebenfalls nicht mit Klarnamen genannt werden möchte. Sie kam erst kurz vor der Corona-Zeit dazu, hat aber ebenfalls eine lange Geschichte hinter sich. „Ich hätte ein Junge werden sollen“, berichtet sie. Als Mädchen habe sie ihren Eltern nur als Kostenfaktor gegolten. Die Mutter zwang sie zum Aufessen und gab ihr später Abführmittel, weil sie angeblich zu dick sei. Der Vater war gewalttätig. Es gab später auch Phasen, in denen sie ein gesundes Essverhalten pflegte. Das änderte sich aber, als sie mehr aus Pflichtgefühl denn aus Liebe geheiratet habe. „Mein Mann hätte gerne eine ,Twiggy‘ gehabt“, beschreibt sie dessen unrealistische Erwartungshaltung. Die Folge des Drucks: „Ich habe nachts um 3 Uhr am Kühlschrank gestanden und mir meine Liebe geholt.“ Nach der Trennung musste sie ihren Sohn allein großziehen, war aber mit ihrem Leben überfordert. Ihre beruflichen Leistungen ließen nach, seit ein paar Jahren erhält sie Erwerbsminderungsrente. Die Selbsthilfegruppe, zu der ihr ein Therapeut geraten hatte, habe ihr „dabei geholfen, zu überleben“.

Sowohl Andrea als auch Annabelle leben inzwischen abstinent. Will sagen: Ihr Essverhalten ist nicht mehr zwanghaft. Beide wissen, welche Lebensmittel bei ihnen die Sucht „triggern“, also Schübe auslösen können. Abgesehen davon können sie heute weitgehend normal essen. „Das Ziel ist ein Leben in der Genesung“, sagt Andrea. Dass mit Abstinenz ein Begriff verwendet wird, den die meisten eher mit Alkohol verbinden, ist beabsichtigt. Wie der Name der Selbsthilfegruppe andeutet, arbeiten nämlich auch die „Overeaters Anonymous“ mit dem Zwölf-Schritte-Programm, das ursprünglich von den Anonymen Alkoholikern entwickelt wurde. Diese beinhalten eine Reihe von Grundsätzen, die einen inneren Wandel herbeiführen und dabei helfen sollen, alte Verhaltensweisen abzulegen.

Keine Diät-Tipps

Deshalb bekommen die Teilnehmenden in den Gruppensitzungen auch keine gut gemeinten Ratschläge oder Diät-Tipps zu hören. Das seien oft nur „Scheinlösungen“ – wie der Versuch, die überzähligen Pfunde mit exzessivem Sport zu verbrennen. Erfolgsdenken sei das, was Druck erzeuge. Es gehe aber nicht ums Abnehmen, sondern darum, sich selbst zu akzeptieren. „Wir machen keine großen Versprechungen. Wir erzählen von uns“, erklärt Andrea den Ablauf der Treffen. Da die Probleme ähnlich seien, finde man vieles, wo man selbst „andocken“ könne, was einem weiterhelfe. Es gebe aber keinen Zwang zu sprechen. „Wir sind keine Therapeuten“, betont Annabelle. „Niemand ist zu irgendwas verpflichtet.“ Das gelte auch für die besagten zwölf Schritte, die eher Empfehlungen für eine gute Lebensweise seien. Vorausgesetzt werde nur Offenheit und die Bereitschaft, mit dem zwanghaften Essverhalten aufzuhören.

Die wöchentlichen Gruppentreffen in Ludwigsburg sind offen für jeden. Da man kein Verein sei, werde auch kein Mitgliedsbeitrag fällig, betonen Andrea und Annabelle. Gesammelt werde nur für die Raummiete. Sogenannte Dienste – wie Schlüssel verwalten oder Öffentlichkeitsarbeit – würden aufgeteilt, eine permanente Gruppenleitung gebe es nicht.

Unter den Gleichgesinnten habe man die Möglichkeit, das loszuwerden, womit man vielleicht die engsten Freunde und Verwandten nicht belasten wolle. In den Gesprächsrunden, an denen meistens circa zehn Personen teilnähmen, gehe es aber keineswegs immer vollkommen ernst zu. Es gebe auch witzige Sitzungen, in denen viel gelacht werde, betonen sie. „Für uns ist dieser Mittwoch eine Lebenshilfe.“

Essen Sie zwanghaft?

1. Essen Sie, auch wenn Sie gar keinen Hunger haben?

2. Haben Sie regelrechte Essanfälle?

3. Haben Sie Schuldgefühle oder Gewissensbisse, nachdem Sie sich überessen haben?

4. Kreist Ihr Denken ständig ums Essen?

5. Warten Sie regelrecht auf Momente, in denen Sie alleine essen können?

6. Planen Sie diese heimlichen Essgelage schon im Voraus?

7. Essen Sie im Beisein anderer ganz normal und holen dann, wenn Sie allein sind, alles nach?

8. Hat Ihr Gewicht Einfluss auf Ihre Lebensweise?

9. Haben Sie schon versucht, eine Woche – oder länger – Diät zu machen und es dann doch nicht geschafft?

10. Ärgern Sie sich, wenn andere zu Ihnen sagen, Sie sollten „ein bisschen Willenskraft aufbringen“, um mit dem übermäßigen Essen aufzuhören?

11. Behaupten Sie hartnäckig, dass Sie jederzeit Diät halten können – obwohl ganz offensichtlich das Gegenteil der Fall ist?

12. Überkommt Sie außerhalb der üblichen Mahlzeiten tagsüber oder nachts das Verlangen zu essen?

13. Essen Sie, um vor Sorgen oder Schwierigkeiten zu fliehen?

14. Waren Sie jemals wegen Übergewicht oder Untergewicht in ärztlicher Behandlung?

15. Macht Ihr Essverhalten Sie oder andere unglücklich?

Ja? Haben Sie drei oder mehr Fragen mit Ja beantwortet, dann ist es wahrscheinlich, dass Sie ein Problem mit dem Essen haben oder auf dem Weg dazu sind. (Quelle: Flyer Overeaters Anonymous: Eine Lösung für Menschen mit einem Essproblem)

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