Politik

Klingbeil: „Lasst uns den großen Wurf beim Bürokratieabbau wagen“

Kurz vor dem Parteitag der FDP sind die Fronten in der Ampel verhärtet. SPD-Chef Lars Klingbeil erklärt im Interview das Thema Wirtschaft zur Top-Priorität – und macht konkrete Vorschläge, wie die Parteien zusammenkommen könnten.

  • SPD-Chef Lars KlingbeilFoto: dpa/Michael Kappeler

    SPD-Chef Lars KlingbeilFoto: dpa/Michael Kappeler

Die meisten würden sich wundern, wie klein das Bundestagsbüro von Lars Klingbeil ist. Der SPD-Chef braucht kein größeres, er hat ja noch eines im Willy-Brandt- Haus. Klingbeil wirkt aufgeräumt: Er betont, ihm gehe es um Lösungen. Im Streit mit der FDP zieht er aber auch eine rote Linie – beim Thema Rente.

Herr Klingbeil, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner beschreiben die ökonomische Lage in Deutschland als dramatisch schlecht. Haben die beiden Recht – oder übertreiben sie?

Wir müssen die Lage klar benennen. Deutschland steht vor großen Herausforderungen in der Wirtschaftspolitik. Das ist eindeutig, wenn wir auf die geringen Wachstumsprognosen schauen. Es muss sich etwas bewegen. Aber wir sollten nicht – wie manche Wirtschaftsvertreter – die Lage schlechter reden, als sie ist. In einen solchen Chor werde ich mich nicht einreihen.

Was erwarten Sie dazu von der Ampelkoalition?

Für die zweite Hälfte der Legislaturperiode ist die wirtschaftliche Stabilisierung das Topthema, auf das die Ampelkoalition sich konzentrieren muss. Alle drei – SPD, Grüne und FDP – müssen schnell gemeinsam schauen, was die Punkte sind, die wir anpacken können. Am Wochenende ist FDP-Parteitag. Dass es da auch um Eigenprofilierung geht – geschenkt. Ab Montag müssen wir gemeinsam loslegen.

Wie?

Alles beginnt mit einer realistischen Situationsbeschreibung. Dazu gehört auch die Erkenntnis: Die größte wirtschaftspolitische Herausforderung liegt nun wirklich nicht darin, dass eine Erzieherin nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente geht. Im Gegenteil, diese Menschen haben das Land über viele Jahre am Laufen gehalten. Sie blicken jetzt staunend und verstört nach Berlin, dass einige hier anfangen, eine Debatte über Rentenkürzungen zu führen, wenn es darum geht, wie wir einen Aufschwung erreichen.

Sie spielen auf das Wirtschaftswende-Papier der FDP an. Hat Lindner nicht Recht, dass es in Zeiten des demografischen Wandels verrückt ist, durch die so genannte Rente mit 63 Fachkräfte vorzeitig in den Ruhestand zu schicken?

Noch mal: Wir reden über Menschen, die 45 Jahre im Schichtdienst waren, die als Pflegekräfte gebuckelt oder als Dachdecker gearbeitet haben. Diesen Menschen den wohlverdienten Weg in die Rente zu erschweren, machen wir nicht mit. Mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler wird es keine Rentenkürzung geben. Punkt.

Was SPD und FDP trennt, ist hinreichend bekannt. Finden Sie im Beschluss der Liberalen denn auch etwas, was sie in der Koalition gern gemeinsam umsetzen würden?

Ja, selbstverständlich. Nehmen Sie das Thema Steuersenkungen. Das wollen wir auch. Wir setzen unseren Schwerpunkt bei kleinen und mittleren Einkommen und wollen eine Entlastung für 95 Prozent der Steuerzahler. Das können wir sofort umsetzen. Das gilt auch für den Punkt Bürokratieabbau. Mein Angebot an die FDP ist: Lasst uns in der Ampel zusammensetzen und den großen Wurf beim Bürokratieabbau wagen.

Das sind hehre Worte.

Ja, aber es sind auch erreichbare Ziele. Es geht darum, auch mit Hilfe der Digitalisierung, das Leben der Menschen, aber auch das Handeln der Unternehmen einfacher und unkomplizierter zu machen. Das Bürokratieentlastungsgesetz ist vom Kabinett auf den Weg gebracht worden. Das ist ein Anfang, aber wir können ehrgeiziger sein. Wir sollten das Gesetz jetzt gemeinsam im parlamentarischen Verfahren nachschärfen. Versuchen wir, ein gesellschaftliches Bündnis aus Gewerkschaften, Arbeitgebern und Politik zu bilden, um Bürokratieabbau voranzubringen. Wieso nicht auch einen der nächsten Bürgerräte zum Bürokratiewust einsetzen, um die Erfahrungen der Menschen in unserem Land einzubeziehen.

Bürokratieabbau ist gut. Aber braucht es für einen Aufschwung nicht handfeste, finanzielle Impulse?

SPD, Grüne und FDP sind sich einig, dass Deutschland mehr Investitionen braucht. Die FDP schlägt vor, basierend auf dem Wachstumschancengesetz, noch einmal weitere steuerliche Investitionsanreize zu setzen. Auch in der SPD haben wir zum Thema Investitionen Vorschläge gemacht. Hier kann und sollte die Koalition sich bald verständigen. Auch dass die FDP die Bauwirtschaft möglichst schnell ankurbeln will, ist ein Punkt, den wir Sozialdemokraten teilen.

Scheitert am Ende nicht doch alles am Geld? Die Haushaltslage ist ohnehin schon angespannt, Finanzminister Lindner will die Schuldenbremse nicht aussetzen. Oder haben wir etwas verpasst?

Deutschland hat nichts davon, wenn wir in 20 Jahren feststellen: Wir haben uns eisern an die Haushaltsdisziplin gehalten, aber Brücken, Straßen und Schulen sind kaputt und wichtige Zukunftsinvestitionen in den wirtschaftlichen Wandel haben wir nicht getätigt. Das darf so nicht kommen.

Der Finanzminister will sich eisern an die Haushaltsdisziplin halten.

Wenn wir uns in der Ampel einig sind, dass wir mehr private und mehr öffentliche Investitionen brauchen, dann finden wir dafür gemeinsam Wege. Wir leben in Ausnahmezeiten. Wir haben sicherheitspolitische und wirtschaftspolitische Umbrüche, die wir meistern müssen. Die Schuldenbremse darf in diesen Zeiten nicht zur Investitionsbremse werden.

Schafft die Ampel es überhaupt, gemeinsam einen Haushalt aufzustellen?

Der Haushalt wird eine riesige Herausforderung – noch größer als beim letzten Mal. Ich bin es aber leid, dass die Ampel in allen möglichen Debatten um sich selbst kreist. Die Bürgerinnen und Bürger haben die klare Erwartung, dass wir unseren Job machen. Deshalb sind wir in der Pflicht, diesen Haushalt aufzustellen und auf den Weg zu bringen.

Wie lange wird es diesmal dauern?

Die Regierung wird den Haushalt vor der Sommerpause vorlegen. Das ist das, was ich als Parlamentarier von ihr erwarte. Und als SPD-Vorsitzender erst recht.

Ein Streit bleibt der Ampel anscheinend erhalten: der um das Bürgergeld. Die FDP will noch einmal Regelverschärfungen bei den Sanktionen. Machen die Sozialdemokraten mit?

Wir haben die Regeln beim Bürgergeld gerade verschärft. Das war auch richtig. Mich ärgert es auch, wenn Einige sich der Zusammenarbeit mit dem Staat verweigern. Die Gruppe dieser Totalverweigerer ist aber sehr klein. Die Probleme der deutschen Wirtschaft lassen sich nicht dadurch lösen, dass die Konservativen ständig das Bürgergeld thematisieren. Wir setzen damit eine Rechtsprechung des Verfassungsgerichts um.

Viele nervt es, wenn sie das Gefühl haben, trotz Arbeit kaum mehr zu haben als diejenigen, die keine haben.

Das verstehe ich. Und deshalb: Die Debatte über das Lohnabstandsgebot führen wir gerne. Das funktioniert aber nicht, indem wir Menschen unter das Existenzminimum drücken. Wir müssen Tariflöhne stärken und werden per Gesetz die Vergabe öffentlicher Aufträge daran knüpfen, ob Unternehmen vernünftige Löhne zahlen. Es geht auch um einen höheren Mindestlohn. Mich ärgert es bis heute, dass die Arbeitgeber beim letzten Mal einseitig eine stärkere Erhöhung des Mindestlohns blockiert haben, obwohl die Inflation dies erfordert hätte. Ich habe eine unmissverständliche Erwartung an die Mindestlohnkommission: Sie muss beim nächsten Mal eine deutliche Erhöhung vorschlagen.

Sehen Sie im Papier zur Wirtschaftswende, das die FDP auf dem Parteitag am Wochenende beschließen wird, nur einen Auftakt für schwierige Haushaltsverhandlungen – oder kann das zum Scheidungspapier werden?

Ich habe als SPD-Vorsitzender immer gesagt: Wir gehen sehr gern in die Ampel, aber wir werden immer deutlich machen, wofür die SPD steht. Das Recht hat jede Partei, die in dieser Regierung ist. Die FDP kann sich also positionieren. Klar ist aber auch, wir sagen deutlich, wo unsere Grenzen sind.

Hält die Ampel bis zum Ende der Legislaturperiode?

Das ist unsere Pflicht. Es geht nicht um unsere eigenen Befindlichkeiten, sondern darum, für das Land etwas zu bewegen.

Einer der Architekten des Wahlsiegs von Olaf Scholz

Politisches
Lars Klingbeil steht seit Dezember 2021 gemeinsam mit Saskia Esken an der Spitze der SPD. Vorher war er Generalsekretär seiner Partei – und damit einer der Architekten der siegreichen Kampagne von Olaf Scholz, die bis zur Kanzlerschaft geführt hat. Klingbeil gehört dem Seeheimer Kreis an, also dem konservativeren Flügel der SPD-Bundestagsfraktion.

Privates
Klingbeil ist der Sohn eines Soldaten und einer Einzelhandelskauffrau. Er ist in Munster aufgewachsen, einer Kleinstadt im niedersächsischen Heidekreis, die auch ein großer Bundeswehrstandort ist. Er hat Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Universität Hannover studiert.

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