Die taiwanischen Behörden hatten seit Tagen vor dem schwersten Taifun der Saison gewarnt, doch trotz weitreichender Vorkehrungen waren die Anwohner nicht auf eine derart archaische Naturgewalt gefasst, als ein Stausee im Landkreis Huailen überlief. Straßenzüge wurden unter tiefschwarzen Erdmassen verschüttet, Häuser in kleinste Teile zertrümmert. Anwohner suchten Zuflucht auf ihren Dächern oder klammerten sich an Strommasten fest. Einige beschrieben das, was sie sahen, als „Katastrophenfilm“ in Echtzeit.
Die Bilanz von Taifun Ragasa: Allein auf Taiwan waren am Mittwoch 17 Menschen tot und mindestens 30 weitere Personen verletzt. Immerhin: Von den anfangs mehr als 150 Vermissten konnte der Großteil bis zu den Abendstunden geborgen werden. Weitere zehn Personen hatten zuvor auf den Philippinen ihr Leben durch die Sturmfluten verloren.
Bewohner der Volksrepublik erfahren wenig
Im demokratischen Taiwan zeigten sich Bewohner erbost über ein mögliches Behördenversagen. Einige Landstriche hätten nämlich laut Medienberichten evakuiert werden müssen – warum dies nicht geschah, wird in den nächsten Tagen zu klären sein.
Anders sieht die Informationslage in der autoritär regierten Volksrepublik China aus: Bis Mittwochabend Ortszeit erhielten die Bürger dort noch keinerlei verlässliche Informationen über die Schäden durch den Taifun. Von der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua hieß es lediglich, dass Ragasa um fünf Uhr nachmittags mit einer maximalen Windgeschwindigkeit von 40 Metern pro Sekunde in der südlichen Provinz Guangdong eingetroffen sei, wo 1,9 Millionen Einwohner das Feld räumen mussten. Doch zur Anzahl an Toten und Vermissten gaben die chinesischen Behörden bisher keine Informationen heraus, offenbar um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.
Gruslige Videos auf der Online-Plattform Weibo
Auf der Online-Plattform Weibo haben allerdings viele Internetnutzer ihren Alltag in furchteinflößenden Videos festgehalten: Dort sieht man, wie der Sturm die Möbeleinrichtung in modernen Apartmentwohnungen durcheinander wirbelt – von Waschmaschinen bis hin zu massiven Wandschränken. „Horror!“, kommentiert ein User. Andere Anwohner, die noch auf die Ankunft des Taifuns warteten, verglichen ihre Situation mit der im Corona-Lockdown: vollkommen leere Straßen, geschlossene Geschäfte, gespenstische Stille.
In Hongkong, wo viele internationale Korrespondenten ansässig sind, ist das Chaos durch den Taifun aber bestens dokumentiert: Hunderte Bäume hat der Sturm aus dem Boden gerissen, Mobiliar in Restaurants und Geschäften wurde zerstört. Über 80 Personen mussten in den örtlichen Krankenhäusern behandelt werden. In einem besonders verstörenden Film, der auf den Online-Plattformen viral ging, sah man, wie sich Flutwellen ihren Weg durch eine verschlossene Hoteltür bahnten und die gesamte Lobby unter Wasser setzten.
Lieferungen für den Black Friday verzögert
Im angrenzenden Macao, das für seine Spielcasinos bekannt ist, wurde die Stromversorgung in einigen Stadtvierteln aus Sicherheitsgründen gekappt. Der Flugverkehr ist bis auf Widerruf vollständig aufgehoben. Hunderte Verbindungen mussten gestrichen werden.
Die Auswirkungen des Taifuns dürften auch außerhalb Südchinas zu spüren sein. Schließlich handelt es sich bei der Provinz Guangdong um die „Werkbank der Welt“. Seit Dienstag stehen dort die Fabrikbänder still. Der taiwanische Zulieferer Foxconn zum Beispiel, der unter anderem Speicher und Ladeanschlüsse für iPhones herstellt, hat seine riesigen Werkanlagen in Shenzhen geschlossen – genau wie die meisten Produktionsunternehmen. Auch die auf Hochbetrieb laufenden Lieferungen für das US-Shopping-Festival Black Friday sind für mindestens eine Woche unterbrochen.
Klimawandel ist schuld
Tatsächlich ist es überaus ungewöhnlich, dass sich ein derart massiver Sturm zu einem solch späten Zeitpunkt im Jahr bildet. Wissenschaftler werten dies als Auswirkung des menschengemachten Klimawandels. „Der Klimawandel bedeutet, dass die Intensivierung schneller voranschreitet – etwa, wie rapide sich ein Sturm zu einem Supertaifun entwickelt“, sagte Benjamin Horton, Forscher und Dekan an der Universität Hongkong, in einem Interview mit der Zeitung South China Morning Post.
Immerhin sollten die schlimmsten Folgen von Ragasa mittlerweile vorüber sein. Am Freitag wird der Sturm voraussichtlich Vietnam erreichen, dürfte sich bis dahin jedoch deutlich abgeschwächt haben.