Stuttgart

Leitartikel: Er ist dann mal weg

Tübingens OB Boris Palmer nimmt einen Monat lang eine Auszeit, um „zu verstehen und Ratschläge zu hören“.

Boris Palmer schweigt. Schon das ist eine Nachricht wert. Wobei es genauer heißen müsste: Er will schweigen. Wer weiß das schon? Von Juni bis Juli will sich Tübingens erfolgreicher Oberbürgermeister – gerne auch mal selbstverliebter Oberprovokateur – eine Auszeit gönnen. Nicht ganz freiwillig, sondern von einer gegnerischen Meinungsmeute getrieben, die ihn (wieder einmal) zu unüberlegten, ungehörigen und unnötigen Positionierungen veranlasst haben.

Zuletzt ging es dabei um Palmersche Widerworte in der von Cancel-Culture-Kreisen ins Schicksalhafte zugespitzten N-Wort-Kontroverse (mit dem „N-Wort“ wird heute eine früher gebräuchliche rassistische Bezeichnung für schwarze Menschen umschrieben). Ansonsten geht es gern um totgeschwiegene oder schöngeredete Herausforderungen und Missstände in der Aufnahmepolitik für immer mehr Flüchtlinge.

Es gehört offenbar zum Palmerschen Gen, sich nicht nur in hitzige Debatten einzumischen, sondern sie sprachgewaltig und unbequem bis ins Unerhörte hinein zu befeuern. Helmut Palmer, der rebellische Boris-Vater, war charismatisch beleidigend, unbeugsam provokant und willentlich ungerecht. Sein Sohn, politisch viel erfolgreicher, weil pragmatischer, ist ihm gleichwohl ähnlich. Ein aufrührerischer Außenseiter, ein selbst ernannter Rechthaber, polarisierender Hitzkopf. Aber auch: ein Vollblutpolitiker mit bewundernswertem Durchsetzungsvermögen, unglaublichem Stehvermögen, ökologisch vermittelbaren Eingriffen und weit über Tübingens Stadtgrenzen hinaus faszinierender Präsenz. Ob einst als grüner Tausendsassa oder jetzt als späteinsichtig wie notgedrungen Losgesagter.

Wenn er jetzt für ein paar Wochen von der flackernden Facebook-Bühne abtritt, wenn er sich einen – ob am Ende aus Schaden klüger geworden, wer weiß das schon? – einen Social-Media-Entzug verordnet hat, dann war das verbunden mit zwei großen Erfolgen. Erfolgen als Kommunalpolitiker. Im vorerst letzten Facebook-Video präsentiert Palmer die Wiedereröffnung einer wichtigen Brücke in die Altstadt, über die jetzt ein dreispuriger Fahrradweg neben einem schmalen Fahrstreifen für Autos führt. Die Brücke gehöre zu jenen fünf großen Bauprojekten, die in Tübingen das Fahrradfahren bequemer, schneller und sicherer machten, schwärmt der ex-grüne Oberbürgermeister. Der zweite Erfolg aber, erst vor wenigen Tagen vom Bundesverwaltungsgericht rechtlich geadelt, ist noch bedeutsamer, weil von bundesweiter Bedeutung. Laut dem Leipziger Urteil darf Tübingen eine kommunale Steuer auf Einwegverpackungen erheben, um der Müllflut auf Straßen und Plätzen wenigstens im Ansatz Herr zu werden. Palmer siegt gegen McDonald’s: Drunter macht es der hartnäckige OB nach wie vor nicht. Und sieht das „Tübinger Modell“ als Türöffner für andere kommunale Mitstreiter (förmliche Anträge der Deutschen Umwelthilfe laufen bereits in den 302 größten deutschen Städten) und Antreiber für deutschlandweite Regelung, nachdem das Gericht einen Widerspruch zum Abfallrecht des Bundes nicht erkennen konnte.

Palmer gegen den Rest der Welt, ob am Neckar oder an der Spree: Ob der OB nach seiner Facebook-Abstinenz wirklich darauf verzichten kann? Jetzt aber will Palmer erst mal „nur verstehen und Ratschläge hören“. Was er ändern will, sei seine ganz persönliche Sache. An der wolle er die Öffentlichkeit nicht beteiligen, sagt er und lässt betont entspannt durchblicken, er wolle im Juli entscheiden, ob er sich überhaupt wieder auf Facebook melden werde.

Wetten werden angenommen. Aber mal ganz ehrlich: Ein schweigender Palmer wäre schade. Für alle.

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