Stuttgart

Immer an der blauen Linie lang

Sie rennen wieder. Am Wochenende findet der Stuttgart-Lauf statt, zum 30. Mal. Begonnen hat alles mit den Leichtathletik-Weltmeisterschaften anno 1993. Doch zunächst stellte sich die Kirche quer.

Stuttgart - Stuttgart hat etliche Verwandlungen von Joschka Fischer erlebt. Ganz augenfällig war dies 1998. Zwei Jahre zuvor brachte der in Fellbach aufgewachsene Fischer, Schüler des Daimler-Gymnasiums in Bad Cannstatt, noch 110 Kilo auf die Waage. Dann speckte er ab und lief beim Stuttgart-Lauf den Halbmarathon in 1:39,22 Stunden. Drei Monate später folgte die nächste Metamorphose, da war der einstige Sponti und Taxifahrer Außenminister.

Fischer war wohl der prominenteste Läufer in den 30 Auflagen des Stuttgart-Laufs. Gut, ein leibhaftiger Olympiasieger war mehrmals da, aber Dieter Baumanns Metier ist ja ohnehin das Laufen. Er war übrigens auch einer der Ratgeber, ganz zu Beginn, als man die Begeisterung der Leichtathletik-WM 1993 in den Alltag retten wollte. Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und Karl-Heinrich Lebherz, Präsident des Württembergischen Leichtathletikverbands, grübelten, wie das geschehen könne – und kamen auf die Idee eines Stadtlaufs. Immer an der blauen Linie lang. Diese Linie schlängelte sich durch die Stadt und markierte die Strecke des Marathons der WM.

Noch mal einen Marathon? Davon riet Baumann ab. Er plädierte für einen Volkslauf. Was damals heftig umstritten war, erinnert sich Lebherz. Zu gerne hätten manche in der Stadt die große Bühne weiter bespielt, doch gab es keine freien Termine für einen großen Marathon, und die Stars der Szene treten nicht für ein Nasenwasser an. Zudem hatte man gerade drei Millionen Euro Nachschlag für die WM berappt und versuchte den Satz von Primo Nebiolo, Chef des Leichtathletik-Weltverbands, zu verdauen: „Be happy und pay the deficit“ – seid glücklich und bezahlt das Defizit.

Noch mehr Defizit? Das kam nicht infrage. So einigte man sich auf einen Halbmarathon. Bei Lebherz rief gleich nach der Verkündigung des Plans der niederländische Manager Jos Hermens an und fragte, wie hoch für seine Läufer die Antrittsprämie sei. Er betreute unter anderem die Olympiasieger Haile Gebrselassie und Khalid Skah. „Das Startgeld beträgt 20 Mark, der Sieger bekommt ein Fahrrad“, antwortete Lebherz. Hermens hat sich seither nie mehr gemeldet.

1357 Sportlerinnen und Sportler nahmen am 28. August 1994 an der Premiere teil. Drei Strecken standen zur Auswahl: ein Halbmarathon über exakt 21,0975 Kilometer, ein Zehntausendmeterlauf und ein Einsteigerlauf für Schüler über zwei Kilometer. Der Start war jeweils beim Stadion, anschließend ging es bei den beiden langen Läufen auf Teilen der Marathonstrecke der WM entlang des Neckars bis zum Max-Eyth-See und zurück durchs Marathontor des Stadions. Der Etat lag bei 80 000 Euro und finanzierte sich aus Startgeldern, Sponsoren und einem Zuschuss der Stadt. Günter Ziwey hieß der erste Sieger des Halbmarathons. Der Jurist lebt längst in Arizona in den USA, seine Siegerzeit von 1:05:46 Stunden ist bis heute der Streckenrekord.

Alle waren zufrieden. Bis auf die Kirchen. „Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist“, heißt es zwar im Brief an die Hebräer im Neuen Testament, doch laufen statt beten am Sonntagmorgen, das war den Kirchen suspekt. Sie protestierten. So fand der zweite Stuttgart-Lauf an einem Samstag statt. 1996 schließlich kam man überein, vor dem Laufen zu beten, seitdem findet ein ökumenischer Gottesdienst vor dem Startschuss statt.

Man darf durchaus sagen, der Stuttgart-Lauf bewegte die Heerscharen. 350 000 Teilnehmer legten insgesamt fünf Millionen Kilometer zurück. Das ist 13-mal die Entfernung zwischen Erde und Mond. Kein Wunder, wollte man zwischendurch mal wieder nach den Sternen greifen. Schuster sagte beim Start des achten Stuttgart-Laufes: „Zum 10. Stuttgart-Lauf wollen wir hier einen Marathon dranhängen.“ Mal abgesehen davon, dass ein Etat von 1,5 Millionen Euro nicht zu stemmen war, macht es die Topografie schwierig. Die Kessellage der Hauptstadt ließ die Landespolizeidirektion abwinken.

Wie recht sie damit hatte, zeigte sich von 2008 bis 2011. In diesen Jahren lief man auf einem Rundkurs durch die Innenstadt. Man wollte Neues bieten, zudem wurde im Stadion die Laufbahn rausgerissen, die Arena umgebaut. Vorbei an Neuem und Alten Schloss über den Marktplatz und entlang der Stiftskirche führte der Weg im Anschluss durch die Altstadt Bad Cannstatts. Aber 2012 entschied man sich wieder auf die traditionelle Strecke zurückzugehen. Das lag vor allem daran, dass es große Verzögerungen beim Start des Halbmarathons gab. 2011 musste er um 25 Minuten verschoben werden – wegen „Unstimmigkeiten bei den Verkehrssicherungsmaßnahmen“, wie es im Behördendeutsch heißt. Der Aufwand, um die Strecke abzusperren und zu beschildern, war zu groß geworden.

Immerhin, 2008 machten über 24 000 Menschen mit. Das ist bis heute der Rekord. Danach waren es bis zur Pandemie immer um die 15 000 Teilnehmer. Im Vorjahr beim Neustart wagten sich 7700 Menschen auf die verschiedenen Strecken.

Doch nun geht es wieder aufwärts. Angemeldet fürs Wochenende haben sich mehr als 10 000 Teilnehmer. Der Stuttgart-Lauf bewegt. Und wo laufen sie denn? Immer an der blauen Linie lang.

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