Der Volksmund nennt das Torschlusspanik. Mit Ende zwanzig wird Frederike, genannt Freddy, nach fünfzehn Beziehungsjahren schlagartig klar: Da draußen gibt es ein unerforschtes Land, das ich unbedingt noch entdecken möchte. Deshalb überredet sie ihren Freund Zeno zu einem Experiment: Dreißig Tage lang ist alles erlaubt. Einzige Bedingung: keine Person zweimal. Der Serientitel „30 Tage Lust“ klingt wie ein doppeltes Versprechen: einerseits für Freddy und Zeno, andererseits fürs Publikum, denn Sex wird in Filmen und Serien seit einiger Zeit geradezu keusch praktiziert. Tatsächlich beginnt schon die erste von acht im Schnitt dreißig Minuten langen Folgen ungewohnt freizügig. Linda Blümchen und Simon Steinhorst, beide bislang noch nicht nennenswert in Erscheinung getreten, agieren allerdings sehr natürlich, was vermutlich nicht immer einfach war, denn Bartosz Grudziecki (Ko-Regie: Pia Hellenthal) und sein Drehbuchteam konfrontieren die beiden mit einigen Situationen jenseits des konventionellen Schamgefühls. Eine Intimitätskoordinatorin hat darauf geachtet, dass keine Grenzen überschritten wurden.
Wandlungen und Irrungen
Obwohl Freddy und Zeno allerlei denkwürdige Begegnungen erleben, ist „30 Tage Lust“ keine Sexserie; es geht vor allem um die Frage, wie die Erfahrungen die beiden verändern. Gerade Zeno macht eine interessante Entwicklung durch. Der Kunstrestaurator wirkt auf den ersten Blick wie ein schluffiger Typ ohne Ehrgeiz und Antrieb. Er wäre nie auf die Idee gekommen, die Beziehung infrage zu stellen. Prompt hat am ersten Tag nicht Freddy, sondern er ein Erweckungserlebnis: Während sie geradezu kläglich daran scheitert, ihren früheren Professor (Sebastian Blomberg) in Stimmung zu bringen, landet Zeno im Bett eines Nachbarschaftspärchens (Boži Kocevski, Claudia Kottal).
Fortan schaut die Kamera ohne jede Bewertung dabei zu, was die beiden so treiben. Erfüllend sind vor allem die zufälligen Begegnungen: Zeno trifft in der Bahn eine einstige Mitschülerin, die schon immer für ihn geschwärmt hat und nun einen Abend lang aus ihrem behüteten Vorortdasein ausbricht; Freddys Sexpartner wird nicht etwa der Hauptdarsteller (Malik Blumenthal) eines Theaterstücks, sondern ein Techniker (Gerwin Dannenberg), der ihr zu einer unvergesslichen Bühnenerfahrung verhilft. Die verabredeten Dates gehen dagegen prompt schief. Immerhin erfährt Zeno im Verlauf eines Abends mit der keineswegs abgeneigten Kollegin Marie (Seyneb Saleh) eine Menge über sich selbst. Während er auch sonst allerlei ausprobiert, ein bewusstseinserweiterndes Abenteuer mit einer schrägen Waldfee erlebt und zwischenzeitlich seinen Stil komplett ändert, wirkt Freddy immer unsteter und will schließlich sogar ihren Job als Apothekerin aufgeben.
Dank der Umtriebigkeit des Paars ist die Serie überraschend abwechslungsreich. Der SWR nennt „30 Tage Lust“ eine „Melancomedy“, und das trifft es recht gut. Es gibt diverse Heiterkeiten, die gern aus zutiefst menschlichen Momenten resultieren, wenn Freddy beispielsweise ihren Ex-Prof keck aufs Sofa schubsen will, der bedauernswerte Mann jedoch auf dem Parkett landet. Der drogenselige Rave im Wald ist geprägt von ansteckender Ausgelassenheit, und eine Hochzeit, bei der praktisch alles schiefgeht, wirkt wie eine Satire auf minutiös geplante Heirats-„Events“. Treffend beobachtet ist auch der Besuch eines ungemütlichen Szenelokals mit unfreundlicher Bedienung und überteuertem Craft-Bier. Trotzdem schwebt eine oftmals nur unterschwellig spürbare Wehmut über vielen Begebenheiten. Mitunter tritt sie auch offen zu tage, und das nicht erst am Schluss: Freddy und Zeno lassen auf ihrem Selbstfindungsweg das eine oder andere gebrochene Herz zurück. Dafür steht vor allem die Dialogfolge sieben, als er sich ein zweites Mal mit Anne (Nairi Hadodo) trifft; da sie beim ersten Mal keinen Sex hatten, verstößt er nicht gegen die Regel.
Keine Klischees
In dem Lokal sitzen auch ein Mann und eine Frau (Wolfram Koch, Nina Petri), die über den Beziehungsstatus der beiden spekulieren. Dies ist das einzige Mal, dass die Serie in eine neutrale Perspektive wechselt, ansonsten geht es ausschließlich um die Befindlichkeiten von Freddy und Zeno, die im Unterschied zu dem älteren Paar nie wie Kunstfiguren wirken. Es wird zwar kein Zufall sein, dass einige Mitglieder des ohnehin divers besetzten Ensembles nicht der zweigeschlechtlichen Norm entsprechen, aber die Drehbücher tragen keine entsprechenden Botschaften vor sich her. Dazu passt auch der Handlungsort: Die Geschichte spielt nicht in einem Berliner Szenekiez, sondern in Stuttgart.
„30 Tage Lust“: Alle Folgen in der ARD-Mediathek.