Wie die Zeit vergeht: Der Focus Designpreis wird bereits seit 1991 vergeben, und dass es ihn immer noch gibt, grenzt an ein kleines Wunder. Denn der Focus gehört zu den wenigen Design-Preisen, die nicht kommerziell sind. Der Focus ist und bleibt damit ein perfektes Förderinstrument des Landes, um innovativen Firmen genauso wie Einzelkämpfern gleichermaßen in der öffentlichen Wahrnehmung hervorzuheben. Auch deswegen sind die Anforderungen an die einreichenden Designerinnen und Designer ziemlich hoch und die Ergebnisse dementsprechend überzeugend.
Um im Wettbewerb eine Chance zu bekommen, muss man neben den funktionalen, ergonomischen, haptischen und ästhetischen Kriterien auch zunehmend die soziale Relevanz eines künftigen Produkts berücksichtigen. Und nicht zuletzt geht es auch um die Frage der Nachhaltigkeit. Regierungspräsidentin Susanne Bay fasste es bei der Vorstellung der Gewinner kurz und knapp zusammen: „Design ist mehr als die schöne Hülle.“
Tatsächlich erfüllt die diesjährige Auswahl genau diesen Anspruch. Alle vorgestellten Produkt-Ideen überzeugen äußerlich wie selbstverständlich. Doch sind sie alles andere als It-Pieces, die man nur ins eigene Ego-Schaufenster oder aufs Coffeetable stellt, sondern dienstbare Helfer in einer komplexen Welt mit einer alternden Gesellschaft.
Mehrere Konzepte kommen dieser Logik entsprechend aus dem Bereich Medizintechnik: etwa ein gut in der Hand liegendes smartes Dermatoskop für Hautärzte für eine effizientere Hautdiagnostik (Wilddesign, Gelsenkirchen) oder eine clever ausgestattete mobile Notfallliege für den Weg vom Rettungshubschrauber zur Notaufnahme (Starmed, Stetten am Bodensee). Beide Ideen bekamen den Focus in Gold.
Ansprechendes Aussehen senkt Hemmschwellen
Eine spezielle Erwähnung hat auch eine Gehhilfe erhalten, die halb Rollator, halb Trolley nicht nur älteren und gebrechlichen Leuten gefallen dürfte. Ein ansprechendes Design wie das vom Citycaddy (Design: Elke Jansen, Hamburg) hilft womöglich Betreffenden über den eigenen Schatten zu springen, sich nicht zu schämen, dass man eine Gehhilfe im Alltag benötigt. Das verhindert Stürze und zu hohe Belastungen aus falscher Eitelkeit.
Doch nicht nur den Citycaddy würde man als designaffiner Besucher der kleinen, feinen Ausstellung im Haus der Wirtschaft am liebsten gleich mitnehmen und ausführen. Auch die Stehleuchte Lukuli Lounge von der gleichnamigen Manufaktur in Esslingen besticht gleichermaßen durch eine reduzierte Formensprache und hohen technischen Anspruch. Rein akkubetrieben spendet die filigrane Schönheit bis zu 100 Stunden Licht, was wirklich ein guter Wert ist. Aktiviert und gedimmt wird die Leuchte berührungslos per Gestensensor.
Design gegen den akustischen Müll
Ein weiteres Beispiel für einen präsentablen innenarchitektonischen Mehrwert sind die wahnsinnig schicken schallabsorbierenden Wand- und Deckenpaneele namens Morph (Moja Design, Stuttgart). Sie bestehen aus Einweg-PET-Produkten und dämpfen etwa in Restaurants oder Großraumbüros den Lärm in Räumen mit mieser Akustik. Das hilft nicht nur den Lärmempfindlichen in unserer Gesellschaft, sondern fördert die Konzentration auch all der anderen Anwesenden.
Dass gutes Design in erster Linie den Nutzern dient und nicht hauptsächlich dem Marketing eines Konzerns, genau das betonte Christiane Nicolaus, die Direktorin des Design Centers Baden-Württemberg, immer wieder. Wie menschengerechtes Design aussehen kann, erkennt man sofort an der Beschreibung der neuen Stadtbahn, die Ausdruck unserer Zeit ist. Die vierte Generation der Stuttgarter Stadtbahn (Tricon, Kirchentellinsfurt) soll von 2026 an auf den Schienen der Landeshauptstadt täglich Tausende so komfortabel ans Ziel bringen.
Mehr Raum, mehr Sicherheit
Doch die Passagiere sind heute andere als vor zwanzig Jahren. Es gibt mehr Fahrradfahrer, die die Stadtbahn benützen. Und junge Frauen, die sich zunehmend bedrängt fühlen und größere Abstände zu den Sitz- oder Stehnachbarn wünschen, was gleichsam für Menschen mit Handicap gilt. Umfragen und Marktanalysen ergeben ein differenziertes Gesellschaftsbild – und die Designer suchen nach Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit.
Ergonomischer Arbeitsplatz
Deswegen soll die neue Stadtbahn mehr Raum für Rollstuhlfahrende, Fahrräder oder Rollatoren bekommen. Das Licht wird indirekt und von der Farbtemperatur wesentlich angenehmer sein als heute. Auch der Arbeitsplatz für das Servicepersonal soll ergonomischer und noch übersichtlicher werden. Gut möglich, dass das neue Gefährt mehr Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger zum Stehenlassen ihres Autos animieren wird. Falls ja, wäre das schön und läge vor allem: am gelungenen Design.
Bilder von ausgezeichneten Objekten finden sich in der Bildergalerie.
Info
Ausstellung
Die Auszeichnungen des Internationalen Designpreises Baden-Württemberg Focus Open 2024 und die prämierten Arbeiten des Mia Seeger Preises sind bis zum 24. Januar im Haus der Wirtschaft Baden-Württemberg (Willi-Bleicher-Straße 19) in Stuttgart zu sehen. Öffnungszeiten montags bis freitags 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Öffentliche Führungen finden ebenfalls statt, nähere Informationen unter www.design-center.de
Buch
Focus Open 2023 und der Mia Seeger Preis 2024, herausgegeben vom Design Center Baden-Württemberg und dem Regierungspräsidium Stuttgart, ist im Stuttgarter AV Verlag erschienen. 224 Seiten, 49 Euro. www.avedition.de