Lisa Weedas Debütroman „Aleksandra“ hatte sich 15 Wochen lang auf dem ersten Platz der niederländischen Bestsellerliste gehalten. Vielleicht war es die Annexion der Krim durch Russland, die für die niederländischen Autorin zum Anlass wurde, sich mit den ukrainischen Wurzeln ihrer Familie auseinanderzusetzen. Von Stalins Zwangskollektivierung bis zum Ukraine-Krieg reichte das Panorama des autobiografischen Romans, in dem eine Erzählerin namens Lisa der Bitte ihrer Großmutter nachkommt und in Luhansk nach dem Grab eines seit 2015 verschollenen Onkels sucht.
Die deutsche Übersetzung von „Aleksandra“ erschien am ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs. Gut ein Jahr später legt Lisa Weeda ein neues Buch vor, dessen Titel aufhorchen lässt. „Tanz, tanz, Revolution“ lautet der und erinnert an Pina Bauschs Zitat „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“
Ein ungewöhnlicher Totentanz
Wer stillsteht, wer seinen Einsatz für eine Gemeinschaft verweigert, nimmt deren Zerstörung in Kauf. So könnte man den Schlachtruf der Tanztheaterikone auf die märchenhafte Situation übertragen, die Lisa Weedas Roman inszeniert: Die Toten, die ein Krieg am Rand Europas in dem kleinen Besulia produzierte, tauchen noch Jahre später in einem nicht näher bezeichneten Land auf. Ein alter Fabeltanz, den jeder mit Hilfe von Video-Tutorials von einer besulianischen Dorfältesten erlernen kann, hat die Macht, die zu früh Verstorbenen zurück ins Leben zu holen; je mehr sich zum Tanzen zusammentun, umso besser stehen die Chancen dafür.
Toni, die vor 16 Jahren als Migrantin in einem neuen Leben Fuß zu fassen versuchte, führt uns als Leichensammlerin des Body-Pick-Up-Service in ihre ungewöhnliche Arbeit ein. Sie sammelt die Toten ein, für die keiner tanzen will. Sie werden auf Totenfeldern zwischengelagert und warten darauf, dass sie Arbeitsmigranten aus Besulia ins Leben zurücktanzen. „Tanzen kann jeder, aber hier schämen sie sich anscheinend dafür“, schimpft Tonis Mutter auf dem Beifahrersitz. Dass die gute Frau wie viele andere in diesem Roman eigentlich tot ist, hindert sie nicht daran, am Schicksal der Wanderleichen aus Besulia intensiv Anteil zu nehmen.
Lisa Weeda montiert die Perspektive eines guten Dutzend von Akteuren und verschiedene Zeitebenen zu einem erzählerisch dichten Geflecht, das so intensiv wie spannend immer näher ans Kriegsgeschehen und ans Sterben selbst heranführt. Mythologische Wesen, die im Neben zwischen Leben und Tod navigieren, sorgen für Gänsehaut. Und auch wenn nie explizit von der Ukraine die Rede ist, kann man sich beim Lesen in der friedlichen Bequemlichkeit ertappt fühlen, in der wir uns trotz der Präsenz von Krieg auf allen Kanälen eingerichtet haben. „Nicht daran denken, dass es Menschen sind, dann geht die Arbeit leicht von der Hand“, informiert eine Schulungsbroschüre neue Body-Pick-Up-Mitarbeiter.
Eine Fabel auf eine nicht so schöne Zeit
So ist „Tanz, tanz, Revolution“ eine Fabel auf eine nicht so schöne Zeit, die lieber wegsieht als sich ins Zeug wirft. Lisa Weeda macht den Tanz, der eine über alle Grenzen hinweg verständliche Sprache ist, zum Symbol für eine zum Menschsein gehörende Empathie. Eine Lektüre, die nicht nur bewegen will, sondern auch allen in Krisengebieten lebenden Menschen ein Denkmal setzt.
Lisa Weeda: Tanz, tanz, Revolution. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann. Kanon-Verlag. 176 Seiten. 22 Euro
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Buch
Lisa Weeda: Tanz, tanz, Revolution. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann. Kanon-Verlag. 176 Seiten. 22 Euro